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feronien
Brüder


Auf einem einsamen Felsen stand in dunkler Nacht eine einsame Gestalt. Ihr weißer Bart fiel über ihren Oberkörper und ihre weiten Flügel hatte sie um sich gelegt, um sich vor der Kühle der Nacht zu schützen.

Nach kurzer Zeit kam eine weitere Gestalt herbeigeflogen und landete hinter der ersten Person. Es war ein Vampir, aber anstatt sein Gegenüber anzugreifen, hustete er nur, um die Aufmerksamkeit des Gargoyles zu erregen.
Der Gargoyle ging in eine Angriffsstellung, doch der Vampir reagierte nicht. Ratlos standen sich die beiden einen kurzen Moment gegenüber.
Dann kam der Vampir mit geöffneten Armen auf den Gargoyle zu und flüsterte: "Mein Bruder!"
Und dieser erwiderte den Gruß.

****

Noch während sie sich umarmten, sprach der Vampir: „Wie lange ist es wohl her?“
„Über hundertfünfzig Jahre – beinahe die Spanne eines Lebens.“ antwortete der Gargoyle.
Da ließ der Vampir ihn los, trat einen Schritt zurück und meinte: „Ja – und die Jahre haben ihre Spuren bei dir hinterlassen. Du bist alt geworden.“
„Und du nicht. Der Zauber scheint zu wirken.“
„Ja, das tut er.“ reagierte der Vampir, beinahe melancholisch.
„Doch erzähl – was willst du? Warum bist du gekommen?“ fragte der Gargoyle ihn.
„Um Vergebung zu erlangen. Mein Bruder – ich will zurück. Ich will nach Hause!“

Aufmerksam stand der Gargoyle da und lauschte dem, was sein Bruder ihm erzählte. Er sprach von den Tagen, als Luzius das erste Mal öffentlich auftrat und seine Lehren verbreitete und wie er damals Gefallen an diesen Aussagen gefunden hatte. Er sprach von den Zauberern und ihren Künsten und wie sie die Gargoyles in Vampire verwandelt hatten. Und er erzählte von seinem Leben, das diesem Tag folgte: einem Leben voller Blut und Horror, ein Leben unter der Knute von Luzius – davon, dass das Bündnis der Vampire zerbrach und sie in alle Winde zerstreut wurden und einem Leben, in dem er niemanden, weder Vampir noch sonst einer Kreatur, trauen konnte.

Schließlich schloss er: „Wir haben uns damals geirrt. Ich habe mich geirrt. Es war der schlimmste Fehler meines Lebens. Und nun – was soll ich tun, mein Bruder?“

Der Gargoyle überlegte und setzte an: „Der Zauber – er hat dich verändert. Du kannst nicht zurück zu uns. Ich vertraue dir – aber die anderen... Weißt du, die Abspaltung der Vampire hat die Gargoyles sehr stark getroffen. Misstrauen wurde gesät und Vertrauen ist nun eine seltenere Gabe als früher.“
„Und wenn du deinen Namen für mich einsetzen würde, dass ich keinem Gargoyle oder Menschen schaden werde?“
Da lachte der Gargoyle laut und verbittert: „Meinen Namen? Das sollte ich besser nicht tun. Der Verrat hat auch da einiges bewirkt: Früher, als wir beide Kinder waren, sprach jeder jeden mit Namen an. Doch heute – weißt du, viele glauben, der Zauber damals konnte nur gelingen, weil die Zauberer eure Namen wussten. Deswegen ist der eigene Namen nun etwas ganz Besonderes geworden: Man erfährt ihn erst, wenn man schon alt genug ist, ein Geheimnis zu wahren und Zeit seines Lebens gibt man ihn nur an engste Vertraute weiter: die Partnerin oder enge Freunde zum Beispiel. Mit meinem Namen für dich zu bürgen würde mehr verwirren, als nützen.
Außerdem – ich bin alt. Ich mag der Jüngere sein, doch meine Lebensspanne ist bald aufgebraucht. Und meine Bürge würde mich nicht lange überleben.
So Leid es mir tut – du kannst nicht zurück.“
„Aber, wohin soll ich dann?“ fragte sein Bruder mit Tränen in den Augen.
„Flieg – flieg nach Süden. Flieg, soweit dich deine Flügel tragen. Versuch, die Stätte des Schöpfers zu finden. Er kann dir helfen, denn dies ist Seine Welt und Sein Wort hat Macht. Wenn du willst, so komme ich mit dir, solange und soweit ich noch kann.“
„Danke, mein Bruder. Aber du hast dein eigenes Leben und es gibt sicher viele andere, die deiner bedürfen. Ich bitte dich nur um eines: Wenn du deinen Kindern und Enkeln von mir erzählst, so warne sie, dass nicht die Verlockungen der Jugend sie verführen und sie einen Weg gehen, denn sie ewig bereuen.
Aber deinem Vorschlag werde ich folgen – ich will soweit reisen, wie ich kann, und wenn ich Sein Haus finde, so will ich um Gnade und Vergebung bitten.“
„Mein Bruder – ich wünsche dir viel Erfolg bei deiner Reise. Mögest du dein Ziel erreichen.“

So verließ der Vampir seinen Bruder, mit dem er einst aufgewachsen war. Niemand hat je erfahren, ob er den Schöpfer fand und seine Bitte vorbringen konnte.

Der Gargoyle aber ging zu den Seinen zurück und erzählte die Geschichte seinen Bruders, zum ersten Mal seit der Zeit des Verrats. Und viele hörten sie und brachten seinem Bruder Mitleid entgegen und hofften, dass er die Vergebung und den Frieden finden würde, wonach er suchte.


ENDE


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