Als Hudson noch jung war, liebte er es,
weite Streifzüge zu fliegen. Er mochte es, den Menschen in ihren
Dörfern und Städten bei ihrem geschäftigen Treiben
zuzusehen. Eine Stadt hatte ihm es besonders angetan: Blamur
Nahezu jede Nacht war er dort, überflog
die Häuser und Gemäuer und betrachtete die Menschen. Und
eines Abends sah er sie: das schönste Menschenmädchen, das
er je gesehen hatte. Lang fielen ihr die blonden Haare über die
Schultern auf das rote Kleid, das sie trug. Sie stand an dem Fenster
eines edleren Hauses und schaute wartend auf die Straße. Hudson
vermutete, dass sie die Tochter eines reichen Kaufmannes war.
Da kam ein Reiter des Weges entlang.
Als das Mädchen ihn sah, sprang sie auf. Kurze Zeit später
öffnete sich die Türe und das Mädchen kam heraus. Sie
lief zu dem Mann, der gerade vom Pferd gestiegen war und umarmte ihn
stürmisch. Er erwiderte die Umarmung.
Nach einem kurzen Moment ließ sie
ihn los und die beiden gingen in das Haus.
Als Hudson die beiden wieder in dem
Zimmer sah, hatte der Mann seinen Mantel schon abgelegt und zeigte
sein schönes, aber schon alt gewordenes Gesicht. Hudson war sich
sicher, in ihm den Vater des Mädchens vor sich zu haben. Die
beiden im Zimmer erzählten und lachten, als auf einmal der Vater
die Hand hob und aus einer Tasche seines Hemds einen kleinen,
goldenen Gegenstand holte. Erst konnte Hudson ihn nicht genau
erkennen, aber dann bemerkte er, dass dies eine goldene Kette war.
Das Mädchen hatte es ebenfalls
erkannt und lief voller Freude auf ihren Vater zu. Sie umarmte ihn
nochmal und dann legte er ihr die Kette um ihren hellen Hals.
*****
Hudson war verliebt – und er
wusste das. Er hatte sich in einen
Menschen verliebt. Und er
wusste auch, dass eine solche Liebe keine Zukunft hatte. Es
gab
keine Beziehungen zwischen Gargoyles und Menschen. Es hatte noch nie
welche gegeben!
Also beschränkte sich Hudson
darauf, weiterhin jede Nacht zu ihrem Fenster zu fliegen und sie aus
der Ferne zu beobachten – ein stiller Beobachter, der niemals
näher an sie heran kommen würde.
Einige Monate ging es so und Hudson war
zufrieden mit diesem Zustand. Ihm reichte es völlig, ihre
Schönheit Nacht für Nacht zu betrachten.
Doch eines Tages tauchte ein Mann auf –
ein Mann, dessen Gesicht bleich wie der Tod war. Regelmäßig
kam er zu dem Kaufmann und seiner Tochter und verbrachte dort lange
Abende.
Hudson wurde eifersüchtig und
begann diesen Mann zu verachten – doch er versuchte sich zu
sagen, dass er dazu kein Recht hatte.
Und so versuchte Hudson seine Gefühle
zu verdrängen und übersah, was an dem Gast auffällig
war: Sein Gesicht war wirklich weiß wie der Tod und trug
jederzeit, auch im Haus, einen Mantel.
Doch Hudson weigerte sich, seinen
Gefühlen zu vertrauen. Und er flog weiterhin jeden Tag wieder zu
dem Haus, um das Mädchen zu besuchen und zu beobachten.
*****
Doch dann kam der Tag, der sein Leben
verändern sollte.
Als er des Nachts bei dem Haus ankam,
sah er, wie das Mädchen und der Mann sich für eine
Wanderung fertig machten. Das Mädchen trug ein schlichtes,
weißes Kleid, dass ihre Schönheit betonte und er trug, wie
immer, einen schwarzen Mantel und hatte ein bloßes Haupt. Er
trug einen schweren Korb, in dem Hudson erstmal nur eine Decke
erkennen konnte.
Hudson beschloss, die beiden zu
begleiten.
Er flog weit über ihnen, damit sie
ihn nicht bemerkten und folgte ihnen in den Wald nahe der Stadt. Auf
einer Lichtung hielten sie an.
Das Mädchen nahm eine Decke aus
dem mitgenommenen Korb und legte sie auf den Boden. Dann zündete
sie Kerzen an und stellte sie auf die Decke, während Hudson sie
von einem der Bäume aus beobachtete.
Dann nahm sie aus dem Korb eine Flasche
Wein und zwei Gläser, die sie dem Mann gab. Während dieser
die Flasche öffnete und die Gläser füllte, nahm sie
die Speisen aus dem Korb und legte sie auf die Decke.
Als sie damit fertig war, setzten sich
beide und begannen zu essen. Dabei unterhielten sie sich lange und
angeregt, aber Hudson konnte kein Wort verstehen.
Es war schon weit nach Mitternacht, als
die beiden das Mahl beendet hatten. Dem Mädchen war kalt
geworden und so erhob sie sich in der Absicht, eine Jacke aus dem
Korb zu holen.
Doch der Mann erhob sich ebenfalls und
kam auf sie zu. Er nahm sie in seine Arme und gab ihr einen ersten,
schüchtern wirkenden Kuss. Dann versanken die beiden in einem
Kuss, und Hudson, der den Anblick nicht ertragen konnte, wendete sich
ab.
Er küsste sie wieder und wieder.
Dabei begann er, um sie herum zu gehen. Als er hinter ihr stand, nahm
er ihre Haare und legte sie zur Seite und sie bot ihm ihren bloßen
Nacken dar.
Er näherte sich mit dem Mund ihrer
Haut - und in diesem Moment sah Hudson die weißen Eckzähne
in seinem Mund blitzen.
Ein Vampir!
Sofort sprang Hudson vom Baum und stieß
den Vampir weg, kurz bevor er seine Zähne in das Fleisch des
Mädchens bohren konnte.
Der Vampir
prallte gegen einen Baum, kam aber sofort wieder auf die Beine. Als
er Hudson sah, zischte er: „Gargoyle“ und sprang auf ihn
zu. Auch wenn er nicht wie Hudson Klauen hatte, so konnte er
doch mit seinen Fäusten heftige Schläge auf Hudson prasseln
lassen. Hudson ging zu Boden und der Vampir ließ von ihm ab.
Er drehte sich um, sah das Mädchen,
dass starr vor Angst auf der Lichtung geblieben war, und ging
lächelnd auf sie zu. Es war ein grausames, verzehrendes Lächeln.
Auf dem Weg zu ihr ließ er den Mantel sich entfalten und die
riesigen, in schwarz gekleidete Schwingen breiteten sich aus.
Bei ihr angekommen, riss er ihren
Kopf zur Seite und legte erneut ihren Nacken frei. Dann biss er zu.
Es war der Schrei des Mädchens,
der Hudson wieder zur Besinnung brachte. Als er aufschaute, sah er
den Vampir und sie in einer tödlichen Umarmung verschlungen. Ihr
Blut floss über ihr Kleid auf den Waldboden, während der
Vampir ihr es weiter aus den Adern saugte und sich daran berauschte.
Mit dem Mut der Verzweiflung raffte
sich Hudson auf, rannte auf die beiden zu und versuchte den Vampir
wegzuschlagen. Doch dessen Griff war so fest, dass er, als er zu
Boden ging, das Mädchen mit zu Boden riss.
Wütend über diese
Unterbrechung ließ er das Mädchen los und wandte sich
erneut Hudson zu. Sein Gesicht war blutüberströmt –
mit
ihrem Blut.
„Du Narr“ zischte er. „Du
törichter Narr. Du hast mir meinen köstlichsten Trunk
verdorben – allein dafür werde ich dich töten.“
Hudson war völlig verwirrt.
„Köstlichsten Trunk? Mehr ist sie nicht für dich –
nur ein Stück Fleisch, dass du nach Belieben verzehren
kannst?“Ein grausames Lachen erfüllte die Nacht. „Oh,
sie ist viel mehr – oder hätte es sein sollen. Unschuldig
und behütet, nichts von ihrem Schicksal ahnend – ein
süßeres Blut gibt es gar nicht. Doch nun ist es
verdorben.“
„Aber warum sie?“ fragte
Hudson verzweifelt.
„Warum nicht? Ist es nicht völlig
egal, welcher Mensch stirbt? Menschen sind nur
Beute –
nicht mehr wert als Tiere. Aber ihr Gargoyles versteht das nicht. Für
euch sind sie wichtig und ihr vergeudet euer Leben, sie zu
beschützen. Und wozu? Damit sie euch doch am Ende verraten.
Nein, Menschen sind Nahrung – genieße sie und berausche
dich an ihnen! Nur dafür leben sie! Denn wir sind die Herren
dieser WELT!“
Der Vampir stand mit erhobenen Armen
vor Hudson und war im Rausch seiner eigenen Rede gefangen, als Hudson
zu dem Mädchen sah, dass immer noch auf dem Waldboden lag.
Zusammengekrümt lag sie da –
ihr Kleid mittlerweile mehr rot als weiß. Das Blut floss
ungehindert aus ihrem Körper und tränkte
den Boden, während ihr Körper leicht zuckte. Ihre Augen
waren vor Schreck geweitet und starten Hudson an. Und sie forderten
Vergeltung...
„Genug“ Erneut stürzte
sich Hudson auf den sich selbst feiernden Vampir. Er achtete nicht
auf sich, sondern schlug immer und immer wieder nach dem Gesicht des
anderen.
Der Vampir, erst überrumpelt durch
diesen Angriff, musste einige furchtbare Schläge einstecken,
doch dann begann er, Hudsons Schläge abzuwehren. Immer mehr
Schläge konnte er abfangen – und dann holte er aus.
Er traf Hudson mitten ins Gesicht und
Hudson ging zu Boden. Der Schlag war stärker als anderen
gewesen, als hätte das Blut die Kraft des Vampirs vervielfacht.
Hudson fühlte sein eigenes Blut
über sein Gesicht fließen. Seine Kraft ging zu Ende. Doch
noch hatte er Hoffnung – schon seit einiger Zeit war es heller
geworden. Die Dämmerung musste unmittelbar bevorstehen.
Der Vampir stand im Blutrausch über
ihm. „Und nun, du Narr – nichts hast du gewonnen. Ihr
Leben ist verloren, ebenso wie deines. Siehst du nun, was es
bedeutet, für die Menschen zu kämpfen? Es bedeutet den
Tod.“
Ein finsteres Lächeln erschien auf
Hudsons Gesicht: „Ja, es bedeutet den Tod. Aber heute nicht
meinen.“
In dem Moment ging die Sonne auf.
Sofort begann Hudson zu Stein zu
werden. Doch konnte er noch sehen, wie der Vampir entflammte und ein
unmenschliches Gebrüll von sich gab. Das Letzte, was Hudson sah,
bevor er in tiefen Schlaf sank, war, wie der Vampir in lodernden
Flammen schrie. Und da tat er ihm Leid.
*****
Am nächsten Abend erwachte Hudson
wieder. Vor ihm lag ein Häufchen Asche. In einiger Entfernung
lag, immer noch zusammen gekrümmt, das tote Mädchen.
Langsam ging Hudson zu ihr. Vorsichtig, um ihren Körper nicht
noch mehr zu schädigen, drehte er sie und legte sie so, als ob
sie schlafen würde. Er faltete ihr die Hände und legte ein
wenig Heidekraut, dass in der Nähe wuchs, in ihre Hände.
Dabei erblickte er den goldenen Anhänger, der nun
blutverschmiert um ihren Hals baumelte. Er kniete nieder und
vorsichtig nahm er ihr die Kette ab.
Als er die Kette von dem Blut befreit
hatte, las er ihren Namen:
Christine
Er wusste, dass ihm nichts mehr zu tun
blieb. Die Menschen würden sie bald finden und nie erfahren, was
sie so zugerichtet hat. Aber er konnte nicht bleiben – ihm
würden sie die Erklärung nicht glauben. Schließlich
war auch er ein Monster in den Augen der Menschen.
Und so verließ er sie.
*****
Aber noch nach Jahren sah der
Friedhofswächter regelmäßig Klauenspuren und frisches
Heidekraut auf Christines Grab.