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Nach dem großen Ende
Köln, 2085: „Den Dom werden sie wohl nicht mehr aufbauen. Schade eigentlich! Zwei Weltkriege hat er überstanden, aber der dritte ...“
John schüttelte sich innerlich. Der dritte Weltkrieg war nun seit knapp zehn Jahren vorbei, doch noch heute konnte er sich an den Horror erinnern. Aus seiner Schulzeit wusste er, dass der erste Weltkrieg anfangs „der große Krieg“ genannt wurde. Mittlerweile hatte er den Namen abgeben – der dritte Weltkrieg, der erste Krieg des 21. Jahrhunderts, war schlimmer gewesen, als ihn sich die Menschen vorher überhaupt vorstellen konnten. Verglichen mit ihm waren der erste und der zweite Weltkrieg nur kleinere Konflikte gewesen.
Wer den Krieg begonnen hatte? John wusste es nicht. Soweit er sich erinnerte, war es entweder Amerika oder China, das den Erstschlag geführt hatte. Europa war lediglich in den blutigen Krieg mit hineingezogen worden und zahlte, so wie viele andere Länder und Staaten, den hohen Preis der Zerstörung. Dabei hatte Europa noch Glück gehabt – Australien war komplett vernichtet und Amerika war zu großen Teilen verstrahlt. China war nur noch ein Trümmerhaufen.
Wie konnte es nur dazu kommen?
John hatte sich in den letzten Jahren seine eigene Theorie zurecht gelegt. Und wenn diese stimmte, war es letztlich egal, wer den Erstschlag geführt hatte – dann hätte es jedes Land sein können:
Es muss in den 30er Jahren des 21. Jahrhunderts gewesen sein, als die großen Weltkonzerne sich entschlossen, aktive Politik zu gestalten. Die großen Firmen, unter ihnen Apple, Google, Facebook, Disney, die Allianz Versicherung, Shell, und Walmart, hatten neue Bündnisse und Fusionen geschlossen. Heraus kamen dabei zwei riesige Weltimperien: „All you need“ (AUN) und „Everything for you“ (E4U). Beide Firmen kontrollierten mehr Vermögen als die Europäische Union als jährlichen Bruttoumsatz hatte. Diese beiden Firmen steuerten auch mehr Menschenschicksale. Eine Löschung des AUN–Kontos war in der EU gleichbedeutend mit dem Verlust der Staatsidentität. Man konnte nichts mehr kaufen oder verkaufen, auch eine Arbeitsstelle konnte ein „Ex–AUNer“, wie sie genannt werden, nicht mehr bekommen.
Einige Politikern war diese Macht zu groß geworden, doch die Firmen stellten sich auf den Standpunkt, das müsse so sein, sie bräuchten diese Macht um existieren zu können. Und die meisten Kunden waren der Meinung, man brauche diese Unternehmen.
Natürlich bezogen sich diese Aussagen nur auf die erste und zweite Welt – die dritte Welt war nahezu verschwunden aus den Gedanken der Menschen. Wer brauchte die schon? Sie hatte kein Geld und Macht hatte sie auch nicht. Sie war unbedeutend und entbehrlich.
Die großen Firmen diktierten den Staaten die Politik. E4U, so wurde behauptet, hätte mittlerweile eine eigene Polizeieinheit, um gegen Produktpiraterie vorzugehen. AUN hatte sogar eine eigene Hymne – Johns Großvater hatte mal behauptet, die Hymne erinnere ihn an „All you need is love“ von den Beatles. John hatte Stunden damit verbracht, dieses Lied im Internet zu finden, aber nach seinen Recherchen schien es ein solches Lied nie gegeben zu haben. Heute, nach dem großen Krieg, war er sich sicher, dass sein Großvater wohl Recht gehabt hatte und AUN das Lied der Beatles wohl komplett aus der Geschichte entfernt hatte. Es passte ja auch nicht – „All you need is love“, so ein Unsinn! AUN verkaufte alles, was auch nur im geringsten käuflich war. Das waren die Dinge, die man wirklich brauchte.
Politisch war die Lage angespannt: Die ganze Welt war erschlossen! Und das ist ein immenses Problem für ein Unternehmen, das wachsen will! Es gab keine Möglichkeit mehr für Expansion, denn die Welt war fein säuberlich zwischen AUN und E4U aufgeteilt, lediglich ein kleines Stück Erde konnte sich die Cola-Company noch halten.
Und so nahm das Unheil seinen Lauf – E4U versuchte, AUN–Kunden zu ködern. Und AUN versuchte dasselbe mit E4U–Kunden. Doch so kreativ beide Firmen auch damit waren, Kunden anzuwerben, bei Kundenverlusten reagierten beide sehr unentspannt. War es nun E4U, die AUN halb China abjagen konnte oder AUN, die E4U halb Amerika madig machten? Wie auch immer, der unterlegene Konzern machte Druck auf die von ihm kontrollierten Staaten und so begann der Krieg.
Anfangs war es noch relativ harmlos, die meisten merkten den Beginn nicht einmal: Lügen über den jeweiligen Feind wurden in die Welt gesetzt, Gerüchte über Ausbeutung und weitere Verleumdungen. Vielleicht waren es auch Wahrheiten, das wurde und wird wohl nie geklärt werden. Doch irgendwann entschloss einer der Konzerne, dass ihm das zu weit ging und forderte Vergeltung. So begann das offene Feuer. Raketen wurden abgeschossen. Atombomben flogen. Alle großen Städte der Welt wurden zerstört – John erinnerte sich an die Bilder, als das Brandenburger Tor explodierte oder die Freiheitsstatue zerfetzt wurde.
Während dem Krieg gingen die Werbekampagnen beider Firmen weiter: Beide propagierten, dass man nur mit ihnen glücklich werden kann und das man „mehr“ braucht, als man schon hat, um wirklich leben zu können. Und natürlich war „Einkaufen“ auch eine Form von Patriotismus. „Ihr Kauf beendet den Krieg“ – so war einer der Werbesprüche. Während die Welt in Flammen stand, sollten John und seine Freunde einkaufen gehen.
Das war der Moment, wo John merkte, dass „du brauchst mehr“ auf Dauer nicht funktionieren würde. Doch die Menschheit hatte das nicht begriffen und zerstörte sich weiterhin. Der Krieg ging bis zu dem Tag vor knapp zehn Jahren, als es auf einmal urplötzlich vorbei war. Die Infrastrukturen der Länder waren so am Boden, dass beide Konzerne sich nicht mehr am Leben erhalten konnten. Die meisten Militäranlagen waren zerstört, die Soldaten waren desertiert. Das Internet, einst ein ständiger Begleiter in allen Lebenslagen, war weg. Keine Firma konnte es noch leisten, so etwas anzubieten. Die SmartPhones, die den Krieg überlebt hatten, waren nahezu wertlos, denn außer Telefonieren konnte man heute einfach nichts mehr damit machen. Und Telefonieren war ein Luxus, den sich nur wenige Menschen dauerhaft leisten konnten.
Die Angst, dass der Krieg nur unterbrochen wurde und bald mit neuer Wucht weitergehen würde, blieb noch lange bei den Menschen. Erst als vier Jahre in Folge keine Bomben flogen, machte sich der befreiende Gedanke breit, dass es endlich vorbei war. Dadurch wurde es aber in den verschiedenen Staaten nicht wesentlich besser! Es schien manchmal, als wäre die Menschheit in die Anfänge der Zeit zurückgeworfen worden, als Tauschgeschäfte noch an der Tagesordnung waren. Vor langer Zeit hatte Johns Großmutter ihm erklärt, wie man Gemüse und Obst einmacht – in einer Welt, in der man alles sofort und neu kaufen konnte, hatte John nichts davon gehalten, aber jetzt ernährte es ihn und seine Lieben.
Während er auf die letzten Mauern des Doms sah, musste John auch an die Rolle der Kirche in dieser Zeit denken. Es war eine unrühmliche Rolle. Alle großen Kirchen waren als Kinder ihrer Zeit ebenfalls mit AUN oder E4U verbunden. AUN bot die Seelenheilversicherung an, bei E4U konnte man sich Gebetseinheiten kaufen. Das bedeutete, man gab man per Webseite sein Anliegen ein und dann beteten irgendwo auf der Welt Leute zum Preis der jeweiligen Einheiten für dieses Anliegen. Dabei war es E4U völlig egal, an welche Gottheit das Anliegen vorgetragen wurde. John hatte immer „bei allen“ angeklickt – einer würde ja schon der Richtige sein! John hatte sich nie für Religion interessiert – es passte auch nicht wirklich in seine damalige Lebenswelt.
Seine e-Book-Sammlung war dem Krieg zum Opfer gefallen und nach dem Krieg hatte er in einer Kirche eine „Einheitsübersetzung“ gefunden. Ein gedrucktes Buch! Er hatte so etwas schon viele Jahre nicht mehr gesehen und ihn überraschte noch heute regelmäßig, wie schwer EIN Buch sein konnte. Jetzt las er in der Bibel – allerdings auch nur zur Zerstreuung. Er las immer mal wieder darin, denn eine andere Ablenkung gab es nicht. Natürlich glaubte er die phantastischen Geschichten darin nicht – ein so erfahr- und erlebbarer Gott konnte ja nur Fiktion sein. Dennoch berührten die Geschichten etwas in ihm. Sie spendeten Trost, den er nicht verstehen konnte, und Hoffnung, die er nicht fassen konnte. Eine Geschichte hatte ihn besonders beeindruckt: Sie stand relativ weit vorne und es war Monate her, dass er sie gelesen hatte. Es ging um das Volk Israel, das in der Wüste lebte und dem Gott vom Himmel her Manna (laut Kontext wohl was Essbares) schickte. Das Besondere an diesem Manna war, dass die Israeliten es aufsammeln sollten, soviel sie eben brauchten – aber immer nur für einen Tag! Wer mehr sammelte, merkte am nächsten Morgen, dass es verdorben war und er neu sammeln musste.
Der Gedanke „soviel sie eben brauchen“ ließ John seitdem nicht mehr los. Vor und während dem Krieg hatte er geglaubt, immer mehr zu brauchen und noch mehr und noch mehr. Jetzt glaubte er was anderes: Jetzt glaubte er, dass es reicht, wenn er für diesen Tag genug hat. John glaubte, dass er für heute nur braucht: ein Dach über dem Kopf, eine liebe Frau und genug zu essen für beide. Was morgen ist, das wollte er dann morgen gucken.
Und so entschied sich John, jeden Tag als „guten Tag“ zu sehen, wo er alles hatte: Ein Dach, eine liebe Frau und genug zu essen. John erlebte viele, viele gute Tage mitten in der Zerstörung durch einen großen Krieg.
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